Beitrag #1 – Gegen das Glatte – Warum wir das Unfertige brauchen

David Lehnert – „Lehnerts Randnotizen“


Es gibt Texte, die fühlen sich an wie frisch gewaschene Bettlaken. Glattgezogen, duftend, ordentlich. Und dann gibt es Texte, die sind wie eine alte Lederjacke: eingerissen, speckig, aber verdammt ehrlich. Ich lese oft Texte, die sich bemühen, richtig zu sein. Richtig im Stil. Richtig in der Grammatik. Richtig in der Absicht. Und dabei frage ich mich: Wo ist der Dreck? Wo ist das Zittern? Wo ist der Moment, in dem der Autor nicht wusste, wie es weitergeht – und trotzdem geschrieben hat?

Perfektion lügt freundlich.

Perfektion ist der Filter der Literaturwelt.
Sie macht alles weich, alles gefällig – und alles ein bisschen leer.
Ein perfekter Satz ist wie ein Instagram-Post mit Lichtkorrektur: schön, ja – aber hat er je geschmerzt?
Hat er je gebrannt?

Wir brauchen nicht mehr Texte, die gefallen.
Wir brauchen Texte, die etwas riskieren.
Texte, die noch nicht fertig sind, aber lebendig.
Die wanken, stottern, stolpern – und gerade deshalb berühren.

Das Fragment ist keine Schwäche.

Ich liebe Satzfragmente.
Ich liebe Halbsätze, in denen etwas fehlt – weil sie Raum lassen.
Für Zweifel. Für Interpretation. Für uns.

Ein unvollendeter Gedanke ist wie eine offene Tür.
Ein fertiger Absatz ist oft nur ein sauber abgeschlossener Käfig.

Lektorat heißt nicht Glätten.

Wenn ich Texte bearbeite – was ich oft tue bei Meta Script –,
dann will ich nicht der Zahnarzt sein, der Karies rausbohrt.
Ich will der sein, der nach dem Nerv sucht.
Der fragt: Was wolltest du eigentlich sagen – bevor du Angst bekommen hast, dass es nicht schön genug klingt?

Die Wahrheit ist rau.

Ein ehrlicher Text tut manchmal weh – nicht, weil er schlecht ist,
sondern weil er wahr ist.
Und Wahrheit ist nie glatt.
Sie ist rau.
Sie schabt an dir.
Sie bleibt hängen.

Zum Schluss – ein Vorschlag:

Lass deinen nächsten Text unfertig.
Lass einen Satz stehen, der nicht ganz aufgeht.
Lass ein Bild, das zu viel sagt.
Lass einen Gedanken, der dir peinlich ist –
denn genau da beginnt Literatur.

Ein Text muss nicht gefallen.
Er muss bleiben.

– David Lehnert

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